Prag, die geheime Stadt

Dem eisernen Vorhang per Interrail auf der Spur

Laurène Perrussel-Morin, übersetzt von Aurélie Fagot
24 Juillet 2013


Drei Wochen, sechs Städte. Ich fange meinen Osteuropa-Road-Trip in Prag an. Hinter ihrem schmucken Aspekt versteckt die tschechische Hauptstadt erstaunliche Orte.


Photo -- Laurène Perrusel-Morin
Reisenden Studenten wurde, dank einer Interrail-Fahrkarte die eine bestimmte Anzahl kostenloser Reisetage bietet, die Gelegenheit gegeben, Europa zu entdecken. Ich habe mit einer Freundin und nur zwei Rücksacken davon profitiert, um eine Teilrunde Osteuropas zu machen. Eine Reise auf dem Spur der Geschichte Europas. Eine Reise, die uns erlaubt hat, die Unterschiede zwischen jenen Staaten zu verstehen, die zu schnell unter der Bezeichnung, „osteuropäische Länder“ verschwinden.
 
Erste Etappe : Prag. Nach zwei Anschlüssen in Brüssel und Köln nehmen wir einen Nachtzug, der uns bis in die Tschechischen Republik in den Schlaf wiegt. Ich öffne ein Auge als der Zug in Berlin hält: mehr als einen Monat nach dem Verlassen meiner zweiten Heimatstadt habe ich das Gefühl zu träumen, als ich jene, die Anschlüsse vom Schönefeld-Flughafen erklärende, BVG-Stimme höre. Ohne es zu bemerken reisen wir durch einen Teil Europas, deren Grenzen abgeschafft wurden.

Prag, Stadt Am Rande Des Wassers

Mit einer Verspätung von mehr als zwei Stunden kommen wir in der Tschechischen Republik an: es ist in der Stadt zu Überschwemmungen gekommen, bei denen acht Menschen getötet wurden. Der Notstand wurde zwei Tage vor unserer Abreise ausgerufen, weshalb wir Angst vor eventuellen Schwierigkeiten während der Reise hatten. Die Moldau, der Fluss, der die Stadt durchfließt, erreichte seinen Höchststand am 4. Juni, dem Tag unserer Ankunft. Vom Zug aus schauen die Fahrgäste mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung auf die unter Wasser stehenden Bäume. Während unseres Aufenthaltes wird die berühmte Karlsbrücke geschlossen bleiben. Maßnahmen gegen das Hochwasser wurden ergriffen und Schutzwände aus Metall verhindern die Überschwemmung der zum UNESCO-Welterbe zählenden Altstadt.
 
Kurz nach unserer Ankunft entdecken wir die Stadt. Die tschechische Hauptstadt erstaunt uns mit ihrer Schönheit. Alles hier ist geordnet. Die Stadt wurde wunderbarerweise von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verschont. Die meisten Gebäude, die oft in leuchtenden Farben gestrichen sind, blieben heil. Der Vielfalt von Kirchen hat Prag ihren Spitznamen „Stadt der Hundert Türme“ zu verdanken. Jetzt scheint wieder die Sonne, die Touristen und Schaulustigen dazu anregt, nach draußen zu gehen. Ein Pianist spielt vor dem Prager Pulverturm, einer der dreizehn Stadttore. Die Ruhe nach dem Sturm.
 
Wir kommen am Altstädter Ring (Staroměstské náměstí) an und beschließen, zu einem klassischen Konzert in der St-Nikolauskirche zu gehen. In dieser Kirche wurde erstmals das Requiem von Mozart zwei Wochen nach seinem Tot gespielt. Das Gebäude macht nicht viel her, verfügt aber über eine exzellente Akustik. Erst am nächsten Tag werden wir der echten St-Nikolauskirche in einem anderen Viertel auf dem linken Weichselufer, begegnen: in Prag haben zwei Kirchen den selben Namen.

Prag und ihre geheimnisse

Für unseren zweiten Tag steigen wir zur Prager Burg auf, die in Wahrheit eine ehemalige mittelalterliche Festungsstadt ist. Auf dem Hügel ist die Stimmung anders als im Rest der Stadt. Als wir auf dem Gipfel ankommen, zieht eine Gruppe Touristen unseren Blick auf sich. Sie fotografieren drei Fenster, woraus wir Musik hören können. Es ist die Wachablösung. Wir besichtigen die Burg, zahlen ein paar tschechische Kronen für den Eintritt in das Goldene Gässchen, das ehemalige Viertel der Artilleristen, das später von Alchemisten und danach von Bürgern und Schriftstellern bevölkert wurde. Zu den berühmten Einwohnern zählt Franz Kafka, Stolz der Tschechischen Republik, damals auf der Suche nach Ruhe und Inspiration.
 
Zurück auf dem anderen Ufer der Moldau steigen wir zum Gipfel des Pulverturms auf und bewundern den Altstädter Ring. Unter uns versammeln sich Menschen rund umStraßenveranstaltungen. Wir erkennen einige Restaurants wieder, wo wir günstig gegessen haben, und erblicken die Burg, wo wir uns vorher waren. Wir gehen hinunter und flüchten uns in den Keller einer Kneipe, um ein Jazz-Konzert zu hören. Dieser Musikstil ist in Prag sehr beliebt und einige Schiffe bieten auch Konzertabende an, wenn die Stadt nicht unter Wasser steht.
 
Prag versteckt seine Geheimnisse: manchmal braucht man sich nur umsehen, um neue erstaunliche Orte oder versteckte Höfe zu entdecken. Durch Verlassen der touristischen Wege schaffen wir es, das berühmte tschechische Bier (ein halber Liter für 0,50 €) zu probieren. Im Restaurant ist ein halber Liter Bier günstiger als ein halber Liter Wasser. Kein Wunder, dass jeder Tscheche mehr als 160 Liter Bier pro Jahr trinkt! Pivo (das tschechische Wort für „Bier“) ist übrigens das wichtigste Wort, das wir gelernt haben: eine echte kulturelle Entdeckung.

Eine historische stadt

Um sicher zu sein, dass wir keinen Aspekt der Stadt verpassen, machen wir während unseres letzten Tages eine Stadtführung. Die „Free Walking Touren“ sind in den europäischen Hauptstädten sehr zahlreich. Oft sind die Führer leidenschaftliche, ehrenamtliche Studenten. Diese Touren ziehen ein jüngeres Publikum an, als so manche, von großen Agenturen organisierten, Führungen. Glücklicherweise befinden wir uns in einer kleinen Gruppe. Unsere Führerin, eine dynamische Frau mit rotem Haar, stellt sich vor: „Ich heiße Andrea. Man sagt, dass ich die Slowakin der Gruppe der Stadtführer bin, aber die Hälfte meiner Familie ist tschechisch“.
 
Sie erklärt lächelnd wie sich die Prager zwei Tage vor der Offensive der Kommunisten selbst befreiten: „Eigentlich brachte es uns zum Lächeln, als sie sich als unsere Befreier vorstellten. Wir wollten ihnen nur sagen: ‚Leute, wir haben schon alles selbst gemacht!’“ Wie Jugoslawien wurde die Tschechoslowakei nach dem Fall des Ostblocks geteilt. Laut Andrea geschah diese Trennung aber gut: „Wir sind gewohnt, die Trennung Tschechiens und der Slowakei mit einer einvernehmlichen Scheidung zu vergleichen“.
 
Unsere Führerin bringt uns in das Judenviertel, einer jener Orte, wo es angenehm ist, ziellos spazieren zu gehen. Ursprünglich gebaut, um die Juden, die als einzige ihre Steuer zahlten zu schützen, wurde das Viertel im 19. Jahrhundert ein Ghetto mit unhygienischen Lebensbedingungen. Es ist das Viertel der Legende des „Golem“, ein menschenähnliches Wesen, das der jüdischen Gemeinschaft helfen sollte bevor es sich gegen sie wendete. Der Golem wurde dann getötet, aber man sagt immer noch, dass die Bestie im Dachboden der Altneu-Synagoge, der ältesten Synagoge Europas, zu finden ist.
 
Nachdem wir diese Stadt nur drei Tage lang besichtigt und deren Geschichte überflogen haben, nehmen wir den Zug zurück. Die Nacht ist schon seit mehreren Stunden hereingebrochen, als wir in den Zug steigen, der uns nach Polen bringt, zur Entdeckung eines neuen Kapitels der europäischen Geschichte.